BSG B 3 KR 19/03 R
BSG B 3 KR 19/03 R
Zur Frage der Erstattung der Kosten für einen schwenkbaren Autositz.
BSG, Urteil vom 16. September 2004 - B 3 KR 19/03 R - nichtamtlicher Leitsatz
Zur Frage der Erstattung der Kosten für einen schwenkbaren Autositz.
BSG, Urteil vom 16. September 2004 - B 3 KR 19/03 R - nichtamtlicher Leitsatz
Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 16. September 2004
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Kläger werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. September 2003 und des Sozialgerichts Duisburg vom 31. Oktober 2002 sowie der Bescheid der Beklagten vom 11. April 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2002 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Klägern 7.239,09 Euro zu erstatten.
Die Beklagte trägt die Kosten der Kläger in allen Rechtszügen.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten für einen schwenkbaren Autositz.
Die Kläger sind die Eltern und Rechtsnachfolger der im Januar 1981 geborenen und am 1. März 2002 verstorbenen Miriam F. , die bei der beklagten Krankenkasse versichert war. Die an einer schweren Autoimmunerkrankung leidende Tochter der Kläger befand sich nach einem Atemstillstand von November 1998 bis zu ihrem Tode im Wachkoma und erhielt Leistungen nach der Pflegestufe III unter Berücksichtigung der Härtefallregelung. Die Beklagte versorgte sie ua mit einem Rollstuhl mit elektrischer Schiebehilfe (Viamobil für drinnen und draußen), einer angepassten Sitzschale und zahlreichen weiteren Hilfsmitteln.
Im März 2001 beantragten die Kläger für ihre Tochter die Versorgung mit einem schwenkbaren Autositz, fügten einen Kostenvoranschlag über 15.069,56 DM bei und gaben ergänzend an, im April oder Mai werde ein neues Fahrzeug ausgeliefert, in das der Autositz zeitnah eingebaut werden solle. Mit Bescheid vom 11. April 2001 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, das Autofahren gehöre nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht zu den elementaren Grundbedürfnissen; deshalb könne ein schwenkbarer Autositz auch nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert werden. Hiergegen legten die Kläger für ihre Tochter Widerspruch ein und wiesen darauf hin, dass es sich bei dem neuen Fahrzeug nicht um die Anschaffung eines Luxusartikels handele, sondern um ein dringend gebotenes Fortbewegungsmittel, welches nach den Bedürfnissen ihrer Tochter umgerüstet werden müsse, um ihr den Besuch im Klinikum sowie bei außerhalb stattfindenden Therapiemaßnahmen zu ermöglichen. Den Widerspruch wies die Beklagte unter Wiederholung ihrer Rechtsauffassung mit Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2002 zurück.
Die Eltern haben als Rechtsnachfolger der Versicherten Klage erhoben, mit der sie zunächst die Erstattung der Kosten für einen im September 2001 selbstbeschafften Autoschwenksitz in Höhe von 9.028,61 Euro verlangten. Das für den Transport der Tochter eingesetzte Fahrzeug ist nach deren Tod veräußert worden. Der Autositz befindet sich noch im Besitz der Kläger, das drehbare Untergestell konnten sie jedoch zum Preis von 1.789,52 Euro an den Lieferanten zurückgeben.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen (Urteil des SG vom 31. Oktober 2002 und des LSG vom 11. September 2003). Die Beklagte habe die begehrte Leistung zu Recht abgelehnt; den Klägern stehe deshalb kein Erstattungsanspruch wegen der Selbstbeschaffung des Autoschwenksitzes zu. Das Hilfsmittel sei nicht erforderlich gewesen, um eine Behinderung der Versicherten auszugleichen (§ 33 Abs 1 Satz 1, 3. Alternative Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung); sie habe den Autoschwenksitz nicht zu ihrer Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt. Weder das Autofahren selbst noch die hierdurch eröffnete Möglichkeit, Ärzte und Therapeuten aufzusuchen, gehörten zu den Grundbedürfnissen. Das Hilfsmittel sei auch nicht erforderlich gewesen, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (§ 33 Abs 1 Satz 1, 1. Alternative SGB V). Schon der Wortlaut dieser Vorschrift stelle eindeutig auf den "Erfolg", nicht aber auf die "Ermöglichung der Krankenbehandlung" ab. Zudem schließe § 60 SGB V, der die Verpflichtung der GKV zur Übernahme von Fahrtkosten in bestimmten Fällen regele, die Gewährung von Hilfsmitteln aus, die allein dazu dienten, die Wege zu den Leistungserbringern zurücklegen zu können. Entgegen der Behauptung der Kläger könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Transport ihrer Tochter ausschließlich mit dem eigenen PKW und dem streitbefangenen Autoschwenksitz hätte erfolgen können. Der Transport von Wachkoma-Patienten durch professionelle Krankentransporteure sei möglich und zumutbar gewesen; erforderlichenfalls hätte ein Elternteil die Versicherte begleiten können.
Die Kläger haben Revision eingelegt und rügen die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das LSG habe verkannt, dass zu den Grundbedürfnissen iS von § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V die Möglichkeit gehöre, Ärzte und Therapeuten aufzusuchen. Auf Grund der multiplen Erkrankungen ihrer Tochter seien die durchgeführten Therapien zwingend erforderlich gewesen, um eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu verhindern. Die Interpretation des LSG sei mit dem Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) unvereinbar. Die Leistungspflicht der Beklagten ergebe sich auch aus § 55 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), denn der in § 55 Abs 2 Nr 1 SGB IX verwandte Begriff der "anderen Hilfsmittel" sei weit auszulegen. Zudem werde § 33 Abs 1 SGB V auch nicht durch die Regelung des § 60 SGB V verdrängt: Soweit die dort vorgesehenen Möglichkeiten zur Wahrnehmung von Therapieangeboten nicht ausreichend seien, müsse § 33 SGB V bürgerfreundlich und gemäß den Leitvorstellungen der sozialen Rechte ausgelegt werden. Schließlich habe das LSG § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt, weil es den Sachverhalt nicht von Amts wegen vollständig aufgeklärt habe. Das LSG habe in der angefochtenen Entscheidung nur Vermutungen angestellt, dass der Transport der Versicherten auch auf andere Weise als mit dem elterlichen Fahrzeug möglich gewesen wäre. In mehreren Schriftsätzen und zuletzt noch in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG sei jedoch ausführlich dargelegt worden, weshalb die Versicherte auf das elterliche Fahrzeug angewiesen gewesen sei; hierzu gefertigtes Bild- und Videomaterial habe das Berufungsgericht zurückgewiesen.
Die Kläger beantragen, die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. September 2003 und des Sozialgerichts Duisburg vom 31. Oktober 2002 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. April 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihnen die Kosten für einen schwenkbaren Autositz in Höhe von 7.239,09 Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidung des LSG und weist im Übrigen darauf hin, dass das LSG nicht gegen die Amtsermittlungspflicht verstoßen habe, sondern lediglich Beweisanregungen der Kläger nicht gefolgt sei.
II
Die Revision der Kläger ist begründet. Die Beklagte und die Vorinstanzen haben den Erstattungsanspruch der Kläger in Höhe von 7.239,09 Euro zu Unrecht abgelehnt. Die Beklagte wäre zur Gewährung der Sachleistung "schwenkbarer Autositz" an die verstorbene Versicherte verpflichtet gewesen; da diese Sachleistung zu Unrecht nicht erbracht worden ist, steht den Klägern als Rechtsnachfolgern ihrer Tochter für die selbstbeschaffte Leistung ein Kostenerstattungsanspruch zu (§ 13 Abs 3 SGB V).
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Kläger werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. September 2003 und des Sozialgerichts Duisburg vom 31. Oktober 2002 sowie der Bescheid der Beklagten vom 11. April 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2002 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Klägern 7.239,09 Euro zu erstatten.
Die Beklagte trägt die Kosten der Kläger in allen Rechtszügen.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten für einen schwenkbaren Autositz.
Die Kläger sind die Eltern und Rechtsnachfolger der im Januar 1981 geborenen und am 1. März 2002 verstorbenen Miriam F. , die bei der beklagten Krankenkasse versichert war. Die an einer schweren Autoimmunerkrankung leidende Tochter der Kläger befand sich nach einem Atemstillstand von November 1998 bis zu ihrem Tode im Wachkoma und erhielt Leistungen nach der Pflegestufe III unter Berücksichtigung der Härtefallregelung. Die Beklagte versorgte sie ua mit einem Rollstuhl mit elektrischer Schiebehilfe (Viamobil für drinnen und draußen), einer angepassten Sitzschale und zahlreichen weiteren Hilfsmitteln.
Im März 2001 beantragten die Kläger für ihre Tochter die Versorgung mit einem schwenkbaren Autositz, fügten einen Kostenvoranschlag über 15.069,56 DM bei und gaben ergänzend an, im April oder Mai werde ein neues Fahrzeug ausgeliefert, in das der Autositz zeitnah eingebaut werden solle. Mit Bescheid vom 11. April 2001 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, das Autofahren gehöre nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht zu den elementaren Grundbedürfnissen; deshalb könne ein schwenkbarer Autositz auch nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert werden. Hiergegen legten die Kläger für ihre Tochter Widerspruch ein und wiesen darauf hin, dass es sich bei dem neuen Fahrzeug nicht um die Anschaffung eines Luxusartikels handele, sondern um ein dringend gebotenes Fortbewegungsmittel, welches nach den Bedürfnissen ihrer Tochter umgerüstet werden müsse, um ihr den Besuch im Klinikum sowie bei außerhalb stattfindenden Therapiemaßnahmen zu ermöglichen. Den Widerspruch wies die Beklagte unter Wiederholung ihrer Rechtsauffassung mit Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2002 zurück.
Die Eltern haben als Rechtsnachfolger der Versicherten Klage erhoben, mit der sie zunächst die Erstattung der Kosten für einen im September 2001 selbstbeschafften Autoschwenksitz in Höhe von 9.028,61 Euro verlangten. Das für den Transport der Tochter eingesetzte Fahrzeug ist nach deren Tod veräußert worden. Der Autositz befindet sich noch im Besitz der Kläger, das drehbare Untergestell konnten sie jedoch zum Preis von 1.789,52 Euro an den Lieferanten zurückgeben.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen (Urteil des SG vom 31. Oktober 2002 und des LSG vom 11. September 2003). Die Beklagte habe die begehrte Leistung zu Recht abgelehnt; den Klägern stehe deshalb kein Erstattungsanspruch wegen der Selbstbeschaffung des Autoschwenksitzes zu. Das Hilfsmittel sei nicht erforderlich gewesen, um eine Behinderung der Versicherten auszugleichen (§ 33 Abs 1 Satz 1, 3. Alternative Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung
Die Kläger haben Revision eingelegt und rügen die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das LSG habe verkannt, dass zu den Grundbedürfnissen iS von § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V die Möglichkeit gehöre, Ärzte und Therapeuten aufzusuchen. Auf Grund der multiplen Erkrankungen ihrer Tochter seien die durchgeführten Therapien zwingend erforderlich gewesen, um eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu verhindern. Die Interpretation des LSG sei mit dem Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) unvereinbar. Die Leistungspflicht der Beklagten ergebe sich auch aus § 55 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), denn der in § 55 Abs 2 Nr 1 SGB IX verwandte Begriff der "anderen Hilfsmittel" sei weit auszulegen. Zudem werde § 33 Abs 1 SGB V auch nicht durch die Regelung des § 60 SGB V verdrängt: Soweit die dort vorgesehenen Möglichkeiten zur Wahrnehmung von Therapieangeboten nicht ausreichend seien, müsse § 33 SGB V bürgerfreundlich und gemäß den Leitvorstellungen der sozialen Rechte ausgelegt werden. Schließlich habe das LSG § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt, weil es den Sachverhalt nicht von Amts wegen vollständig aufgeklärt habe. Das LSG habe in der angefochtenen Entscheidung nur Vermutungen angestellt, dass der Transport der Versicherten auch auf andere Weise als mit dem elterlichen Fahrzeug möglich gewesen wäre. In mehreren Schriftsätzen und zuletzt noch in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG sei jedoch ausführlich dargelegt worden, weshalb die Versicherte auf das elterliche Fahrzeug angewiesen gewesen sei; hierzu gefertigtes Bild- und Videomaterial habe das Berufungsgericht zurückgewiesen.
Die Kläger beantragen, die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. September 2003 und des Sozialgerichts Duisburg vom 31. Oktober 2002 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. April 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihnen die Kosten für einen schwenkbaren Autositz in Höhe von 7.239,09 Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidung des LSG und weist im Übrigen darauf hin, dass das LSG nicht gegen die Amtsermittlungspflicht verstoßen habe, sondern lediglich Beweisanregungen der Kläger nicht gefolgt sei.
II
Die Revision der Kläger ist begründet. Die Beklagte und die Vorinstanzen haben den Erstattungsanspruch der Kläger in Höhe von 7.239,09 Euro zu Unrecht abgelehnt. Die Beklagte wäre zur Gewährung der Sachleistung "schwenkbarer Autositz" an die verstorbene Versicherte verpflichtet gewesen; da diese Sachleistung zu Unrecht nicht erbracht worden ist, steht den Klägern als Rechtsnachfolgern ihrer Tochter für die selbstbeschaffte Leistung ein Kostenerstattungsanspruch zu (§ 13 Abs 3 SGB V).
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Tags für diese Entscheidung: hilfsmittel, erstattung, autositz, krankenkasse, krankentransport, fahrtkosten, pflegestufe
Angewandte Normen: § 2 SGB V, § 10 SGB V, § 11 SGB V, § 12 SGB V, § 13 SGB V, § 33 SGB V, § 34 SGB V, § 37 SGB V, § 60 SGB V, § 55 SGB IX, § 193 SGG
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